Abonji „Tauben fliegen auf“

Zwischen Traubisoda und vollgeschissenem Männerklo

„Tauben fliegen auf“ als Spiegel der Konflikte von Migrantengenerationen

Ildi will nicht länger schweigen und zusehen, wie ihre Eltern und Schwester Sticheleien der Schweizer ertragen. Mit bloßen Händen wischt sie die Scheiße von der Wand der Herrentoilette. Ihr ist klar, diese Schmiererei ist nicht das Resultat eines Missgeschicks, sondern ein Zeichen purer Diskriminierung. Einer unausgesprochenen, aber spürbaren Ablehnung ihrer Familie und ihres Erfolgs. „(…) Kein Durchgedrehter, Abnormaler, unberechenbarer Freak hat seine eigene Scheisse in die Hand genommen und sie an unsere Klowand geschmiert, sondern ein kultivierter Mensch“

Ildikó schuftet im familieneigenen Betrieb und vernachlässigt ihr Studium – reine Aufopferung. Stellt sich hinter die Theke, um Kaffee zu bereiten, oder spielt die Servicedame, um den Gästen die Wünsche von den Lippen zu lesen. Dabei formt sie sich zu dem übertrieben höflichen Fräulein, das sie nie hatte werden wollen. Mit eingeschränkter Persönlichkeit und keiner Chance, die eigenen Träume zu verwirklichen – ein bloßes Abbild in den gläsernen Fenstern des Café Mondial. Nachdem Ildi von ihrer Mutter den Rat bekommt, die Sticheleien schweigend zu ertragen und sich vor Augen zu halten, dass der Krieg in der Heimat schlimmer sei als Scheiße an der Wand, bricht Ildi aus dem erkämpften Leben ihrer Migranteneltern aus und geht eigene Wege.

Die ungarisch-schweizerische Autorin Melinda Nadj Abonji zeichnet mit dem Roman „Tauben fliegen auf“ den Konflikt zweier Migrantengenerationen. Durch den modernen Sprachstil, die langen, harmonischen, wohlkomponierten Sätze erschafft sie lebensnahe Figuren. Nah an den Gedanken der Protagonistin Ildikó erlaubt sie einen Blick auf die Gefühlswelt der heranwachsenden jungen Frau. Die Worte sind gewählt, liegen an der Grenze zur Oralität. So fesseln Ildis berauschende Beschreibungen der Traubisoda oder der heimatlichen Atmosphäre. Als junge Frau taucht dieses Berauschen in der Haltung gegen die versteckte Diskriminierung der Schweizer erneut auf. Abonji streut Orientierungspunkte in die Passagen ihrer Erzählkunst ein, an denen sich der Leser festhalten soll. Manchmal zu gut gemeint, gerade wenn es nicht mehr einer genaueren Erklärung von Ildis Gedanken und historischer Zusammenhänge bedarf.

Wichtige Jahre ihrer Kindheit verbringt Ildikó ohne Eltern in der Heimat Vojvodina. Behütet von der Großmutter Mamika und der restlichen Familie, lernt Ildi das Leben dort schätzen und lieben. Doch nachdem sie und ihre Schwestern von den Eltern in die Schweiz geholt werden, fassen sie Fuß in der Welt des Westens. Ildi lernt mit zwei kulturellen Extremen und Freiheiten zu leben. Während sie in Jugoslawien das einfache Leben und die kindliche Unbeschwertheit genießt, wird sie in der Schweiz mit hinterhältigen Sticheleien und Hassbekundungen konfrontiert. Doch das Täubchen muss erst zu einer jungen Frau heranwachsen, um die Probleme der Familie in der neuen Heimat verstehen zu können.

Es sind nicht nur die indirekten Beleidigungen, die Ildi Probleme bereiten, sondern vor allem die passive Haltung ihrer Eltern, ein Schweigen und Aushalten. Sie fühlt sich eingeschlossen, möchte ausbrechen aus ihrer vordefinierten Rolle des Fräuleins. „(…) will verschwinden aus diesem halbierten Leben, diesem Alltag, in dem der Dienstleistungsbetrieb zum Schicksal wird, „´mundtot`geht mir durch den Kopf, ich werde mundtot gemacht (…)“. Sie soll es besser haben, das ist das große Ziel ihrer Eltern. Dieses „besser“ ist von Ildi jedoch nicht erwünscht. Es impliziert Zurückhaltung und die Akzeptanz der Ungerechtigkeit.

Im Café ihrer Eltern ist sie Erniedrigungen ausgesetzt. So sucht sie auf Knien den Schuh eines Gastes unter den Bankreihen.  Eine Szene, in der Abonji das Verhältnis zwischen Migranten und Schweizern überspitzt. Es sind keine verbalen Attacken, mit denen die Schweizer ihr Missfallen bekunden, sondern symbolische Handlungen. Für Ildi ist die Suche unter der Bank nicht nur eine Herabwürdigung, sondern auch der erste Schritt in die Eigenständigkeit. Nach dem Vorfall auf der Herrentoilette erkennt sie ihren Ausweg, ein Leben fernab des Mondial und der akzeptierenden Haltung der Familie.

Für ihr selbstständiges Leben zieht Ildi in eine kleine, heruntergekommene Wohnung. Ihre Eltern haben kein Verständnis für ihren Entschluss und sehen es als Rückschritt an. Doch für Ildi beginnt mit der Unabhängigkeit das Erwachsenenleben.

Angaben zum Buch:

Melinda Nadj Abonji, ISBN:3902497785, Jung und Jung Verlag

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